ReportageMea she`arim: Attraktion, Tradition & Religion

Auf den Straßen Mea she`arims ©Iuliia Serova/shutterstock.com

Das ultraorthodoxe Viertel in Jerusalem ist eine eigene Welt, geprägt von Anachronismus, Tradition & Religion. Sein Ruf und Ruhm setzt sich zusammen aus Einzigartigkeit, Abgrenzung und einer gewissen Feindseligkeit.

 

Das Viertel befindet sich im nördlichen Teil der Altstadt Jerusalems. Gegründet 1874, nach dem Vorbild osteuropäischer jüdisch-orthodoxer Siedlungen. Mea she`arim bedeutet übersetzt »Hundert Tore « oder »hundertfach«, bezieht sich damit auf Genesis 26:12.

Das Straßenbild mutet mittelalterlich an. Dem Stadtteil sagt man nach, ein bewohntes Museum zu sein, dass sich seit den Gründerjahren nicht stark verändert hat. Wäsche hängt zwischen Gassenbögen, in den Ecken liegt haufenweise Müll. Die Wände der Häuser und Straßen sind gepflastert von Plakaten und Hinweisschildern. Sie sind das wenige Bunte, sonst ist es karg, sperlich.

Auf den Straßen hört man normalerweise kein Hebräisch, gesprochen wird Jiddisch: Eine nahezu tausend Jahre alte westgermanische Sprache, deren Wurzeln man im Mittelhochdeutschen verortet. Ihr Klang ist eigen, sie weist hochdeutsche, hebräisch-aramäische, romanische, slawische und englische Anteile auf. Deutschsprachige BesucherInnen können hier und da Fetzen verstehen.

Mea She`arim wird beherrscht von eigenen Gesetzen. Die Thora ist, wonach sich das Leben ausrichtet, das höchste Gericht, wenn man es so will. Die israelische Polizei hat deshalb nur bedingt „etwas zu melden“.

Dem israelischen Staat entzieht man sich und verweigert ihn teils gänzlich. Stellt gewissermaßen eine Oppostion zum Zionismus dar. Der israelische Pass wird abgelehnt, überwiegend werden keine Steuern an ihn bezahlt, an Wahlen wird nicht teilgenommen.

 

BewohnerInnen & Klare Geschlechterordnung

Etwa 1000 Familien leben hier, meist kinderreich, größtenteils abseits von moderner Technologie, moderner Kommunikation und moderner Weltanschauung. Es gibt keine Computer, Radios, Fernseher oder Zeitungen und Zeitschriften. Kommuniziert wird über Wandplakate.

Nahezu die Hälfte lebt unterhalb der Armutsgrenze, bezieht Sozialhilfe. Das Familienleben ist geprägt von Religion und einer strikten Gesellschafts- beziehungsweise Geschlechterordnung.

Männer widmen sich in ihrem Alltag bis zu 12h am Tag den religiösen Studien. Im Durchschnitt kommt auf zehn männliche Bewohner Mea she`arims eine Synagoge. Ab dem Teenageralter tragen sie schwarze Anzüge mit weißen Hemden. Der Kopf wird von einem schwarzen,hohen Hut bedeckt, Schläfenlocken lugen hervor. Auf den Straßen sieht man sie selten in Ruhe: Ihr Schritt ist geprägt von Hast und einer gewissen Dringlichkeit.

Die Frauen sind für Haushalt und Kinderbetreuung zuständig. Ihre Kleidung kann als keusch oder züchtig bezeichnet werden. Knöchellange Kleider und Röcke & dezente Farben, häufig ebenfalls schwarz. So manch ein Fremder wunderte sich bisweilen über erstaunlich „ähnliche Frisuren“: Die Verheirateten tragen Perücken, das Haar darunter ist kurz geschoren - so will es der Talmud. Ein jüdisches Schriftstück, das als praktisches, alltagsnahes Regelwerk verstanden werden kann.

Die Geschlechterordnung mag aus unseren Augen mittelalterlich anmuten: Öffentlich als Paar aufzutreten ist undenkbar, wo immer es Schlangen gibt, wird sich getrennt angestellt.

 

Eine Attraktion?

Mea she`arim ist gelebte Abschottung, aber ebenso zu einer Touristenattraktion geworden. Gegenüber Fremden und BesucherInnen liegt eine gewisse Feindseligkeit in der Luft. Nicht selten kommt in ihnen das Gefühl  eines "unerwünschten Eindringlings" auf. In der Vergangenheit kam es durchaus immer wieder zu Angriffen von Seiten der BewohnerInnen.

Verhält man sich jedoch dezent, taucht nicht in großen Gruppen auf & respektiert die Vorschriften, sind Probleme mit ihnen unwahrscheinlich. Ein enger Kontakt ebenso.

Bei Besuchen gilt für Männer das Tragen langer Hosen und bestenfalls einer Kippa. Bei Frauen, lange Röcke oder Kleider, sowie die Bedeckung von Schultern und Dekolletee. Hier bestenfalls: Mit Kopftuch. Allgemein gilt: „No photos!“

Das Viertel der »Hundert Tore« ist unbestritten ein besonderer, aber auch bedrückender Ort. Weckt Neugierde gleichermaßen wie innere Anspannung. Es ist zweifellos eine schwierige Frage, inwieweit das Bedürfnis der BewohnerInnen Mea she`arims nach Rückzug und Abschottung geachtet werden sollte. Denn das Viertel kann auch als Ausdruck von Toleranz verstanden werden. Als Ausdruck davon, dass andere Lebenstile einen Raum haben.

Autorin: Lea Katharina Nagel

 

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