von Klaus Simon

ParisDance the night away

Pariser Nacht
Quelle: © iStockphoto.com /Thinkomatic

Der Zug durch die Nacht beginnt für Pariser Szenegänger klassischerweise an der Bastille, um zu vorgerückter Stunde im „wilden Osten“ – in Belleville – zu enden. Von der Rue de Charonne über die Kais am Canal St-Martin bis in die Rue Oberkampf wird die Nacht zum Tag gemacht.

In Paris sind die Nächte lang – und lebendig. Das Angebot ist überwältigend, der Sound global – wenn die Welt ein Dorf ist, ist Paris seine erste Adresse. Afrikanische Klänge mischen sich mit arabischen, Cooljazz trifft auf Hip-Hop und House; Rock, Pop, Funk und Elektro trifft man allerorten, und Indie ist immer gut. „Indie“ ist in der zentralistisch regierten Stadt an der Seine nicht bloß ein Musikstil, sondern ein Lebens gefühl. „Indie“, unabhängig zu sein, das bedeutet gerade nicht, im Trend zu liegen – sondern den Trend zu setzen. Und zwar ganz nach dem Motto: „Wo wir sind, ist vorn – und wenn wir hinten sind, ist hinten vorn.“ Dementsprechend gibt es in Paris auch nicht bloß eine oder gar „die“ Szene, sondern viele Szenen, und „der“ Szenegänger ist zuerst mal ein – unabhängiges – Individuum, das sich mit anderen Individuen trifft. Gemeinsan wird dann, vielleicht, eine Szene daraus – oder eben nicht.

In Paris kann es übrigens durchaus vorkommen, dass ein solches „Individuum“ Mick Jagger, Kate Moss oder Johnny Depp heißt, selbst wenn die sich heute nur noch selten blicken lassen. Auch Carla Bruni wechselte ihr heißes Lederoutfit längst gegen ein staatstragendes lila Kostüm, was aber alles nur heißt, dass jede Zeit ihre Helden – und Szenen – hat. Neue Zeiten bringen neue Helden – und neue Szenen –, und in Paris sind diese Szenen überraschend vielfältig. Das gilt übrigens keineswegs bloß für die Musik: Ob hetero oder gay, indifferent oder interdisziplinär, in Paris sind die Nächte lang – und lebendig. Oder sagten wir das schon?

„Die“ Pariser Szene gibt es nicht. Aber dafür, dass es sie nicht gibt, ist sie erstaunlich lebendig.

Paris de nuit

Doch bevor wir uns nun selbst ins Pariser Nachtleben stürzen, sei uns eine kleine Rückblende gestattet, in die 1920er- und 1930er Jahre nämlich. Da machte sich der im Jahr 1899 in Ungarn geborene Fotograf Brassaï (eigentlich Gyula Halász) auf den Weg durch die Stadt, die ihm nach dem Ersten Welttens geht die Post ab, wenn der DJ ab Mitternacht dem hippen & jungen Publikum einheizt. Was das karge Interieur nicht ahnen lässt: Die denkmalgeschützte Fassade stammt von Gustave Eiffel. Vielleicht sollte man später noch einmal reinschauen. Im „Le Point Ephémère“ sind die Betonwände so nackt wie in einer Tiefgarage, die Tische dafür gut besetzt. Draußen tatütatatet ein knallroter Rettungswagen übers Ufer des Canal St-Martin – die Kaserne der Feuerwehr ist direkt nebenan. Fazit, das ehemakrieg zur Heimat geworden war, und das Besondere daran ist, dass er sich nachts auf den Weg machte, dass er das Pariser Nachtleben entdecken und mit seiner Kamera festhalten wollte: „Paris de nuit“, sein erstmals im Jahr 1933 erschienener Fotoband, ist längst ein Klassiker, und zwar einer von der Sorte, die es immer wieder lohnt, in die Hand zu nehmen, um darin zu blättern, um sich ein Bild zu machen von den „Szenen“ dieser Zeit, in denen Paris nicht anders als heute bevölkert war von einem aufregend vielfältigen Mix lebenshungriger Menschen auf der Suche nach den Sensationen der Nacht, die für den einen möglichst laut und schrill sein sollen und für den anderen ganz leise wie ein zart im Schein einer Straßenlaterne gegebener Kuss. Oder wie Brassaï das in seine eigenen Worte kleidete: „Die Nacht lässt ahnen, sie offenbart nicht. Die Nacht verwirrt uns und überrascht uns durch ihre Fremdheit, sie setzt Kräfte in uns frei, die bei Tage vom Verstand beherrscht werden.“

Im Grunde habe er „eine große Reportage über das menschliche Leben gemacht“, sagte Brassaï, und vielleicht ist das der Grund dafür, dass man, wenn man seine Fotos eine Weile lang ansieht, unweigerlich meint, die Pariser Nacht müsse auch heute noch schwarzweiß sein. Was man vielleicht doch gelegentlich mal wieder überprüfen sollte …

„Warm. Wärmer. Disco.“ (Uma Thurman zu John Travolta in Pulp Fiction)

Der Nabel der Pariser Nacht

„Je suis seul.“ Die Kellnerin im „Pause Café“ hat nur ein spöttisches „Ça arrive“ für unseren Platzwunsch übrig – „Das kommt vor.“ Schließlich zeigt Mademoiselle aber doch noch Erbarmen, lächelt und weist uns einen Tisch am Fenster zu. Voilà, der Ausflug durch die Pariser Szene(n) kann beginnen. Jetzt am frühen Abend flutet die Sonne den hohen Saal – einen besseren Platz hinter der Bastille, um sich selbst beim Apéritif in Szene zu setzen, gibt es nicht. Und: Die bunten Tische sind jeder für sich der strategisch beste Platz, um Modedesigner wie Jean Paul Gaultier oder Véronique Leroy zu orten. Zeit, sich mit einer Kleinigkeit zu stärken. Im „Café de l’Industrie“ treffen sich Künstler, Freiberufler, Szenegänger und solche, die es werden wollen. Im Saal dokumentieren Schwarz-Weiß-Fotos den Aufstieg der Bastille vom Handwerkerviertel zum Nabel der Pariser Nacht. Und die Entenkeule mit Honig und Gewürzen schmeckt schlicht und ergreifend wunderbar.

Fürs „O.P.A.“ ist es noch deutlich zu früh: um 22.30 Uhr ist der Laden eher leer. Ausgeschrieben bedeutet das Kürzel Offre Publique d’Ambiance (Öffentliches Stimmungsangebot), was in doppelter Hinsicht stimmt. Erstens zischt der Doorman Gästen nur selten ein abweisendes „privé“ entgegen. Zwei Welttens geht die Post ab, wenn der DJ ab Mitternacht dem hippen & jungen Publikum einheizt. Was das karge Interieur nicht ahnen lässt: Die denkmalgeschützte Fassade stammt von Gustave Eiffel. Vielleicht sollte man später noch einmal reinschauen.

Im „Le Point Ephémère“ sind die Betonwände so nackt wie in einer Tiefgarage, die Tische dafür gut besetzt. Draußen tatütatatet ein knallroter Rettungswagen übers Ufer des Canal St-Martin – die Kaserne der Feuerwehr ist direkt nebenan. Fazit, das ehemalige Streugutlager am Canal St-Martin, das Café, Bistrot, Galerie und Musikbühne ist, gilt als „très tendance“.

Retro-Chic trifft Rave und House

Belleville wartet. Auf der Rue Oberkampf gibt Pariser Vintagemode von „E2“ oder Urban Streetwear von „0044“ den Ton an. Das Ziel heißt „Café Charbon“. Mit dem „Charbon“ lancierte der in Paris angesagte Inneneinrichter Ulysse Ketseledis als Erster die heute sehr trendigen Néo-Cafés: Ein paar nostalgische Verweise, sicher, aber Elektropop aus den Lautsprechern und der coole Loftchic belegen, dass man nach vorn schaut.

Die Theke bleibt ein fester Ankerplatz im Partyrausch des Pariser Ostens. Abends einen freien Tisch zu bekommen, bedarf allerdings einigen Stehvermögens. Doch mit einem gefüllten Glas in der Hand lässt sich das Warten im Pulk in der Regel ganz gut aushalten.

Letzter Stopp im „L’Île enchantée”. Der Laden vermischt den Look eines Cafés der Belle-Epoque mit knallbunten Resopalstühlen der 1960er- und Wänden in den Schockfarben der 1970er-Jahre. Tagsüber ist das Ecklokal eine der begehrtesten Terrassen von ganz Belleville. An einigen Abenden aber wird der Saal mal eben zur Disco umimprovisiert. In der Pariser Rave- und House-Szene gefeierte Labels wie „Katapult“, „Project 101“, „Requiem“ geben dann hier den Ton an. Und um 2.00 Uhr muss die Musik ausgestellt werden. Theoretisch.

Immer aktuell

Über neue und neueste Clubs und Diskotheken informiert die Web-Seite von Radio Nova, www.novaplanet.com. Konzerte und Events findet man in den Wochenheften Pariscope oder L’Officiel, die es an jedem Kiosk gibt. Beachten sollte man, dass die öffentlichen Verkehrsmittel nachts zwischen 0.30 und 1.00 Uhr ihren Dienst einstellen – danach muss man den Nachtbus nehmen, in eines der wenigen Taxis steigen – oder auf die erste Métro warten (ab 5.00 Uhr morgens). Ein stimmiges Outfit wird erwartet – sonst kommt man in Clubs und Discos nicht an den Türstehern vorbei.

In & Out

„In“ als Ausgehviertel sind besonders der untere Teil des Montmartre, das Marais, die Gegend rund um die Bastille und die Region um die Rue Oberkampf sowie Teile von Belville. „Out“ ist das linke Seine-Ufer, vor allem Saint-Germain-des Prés, da fest in touristischer Hand. Aber das kann sich auch schnell wieder ändern – so wird ein Viertel wie Butte-aux- Cailles (nahe der Place d’Italie) mit seinen vielen Kneipen neuerdings auch von den Einheimischen verstärkt frequentiert – wegen der (noch) relativ günstigen Preise.
Übrigens: Im August haben viele Clubs geschlossen.

Die Adressen der Nacht

  • Pause Café, 41, rue de Charonne (Métro: Bastille), Mo.–Sa. 7.30–2.00, So. 9.00 -20.00 Uhr. Nachmittags vorwiegend Café mit sonniger Terrasse, abends ein bunter Szenetreff mit italienisch angehauchter Küche.
  • Café de l’Industrie, 16, rue St. Sabin (Métro: Bastille), So.–Fr. 10.00–2.00 Uhr. Locker-flockige Kneipenatmosphäre in einer Seitenstraße der Rue de la Roquette, der Ausgehstraße an der Bastille, und deshalb meistens ziemlich voll. Guter Start in die Nacht: „Ti’punch“, ein Cocktail mit Rum, Rohr zucker und Limettenscheibe.
  • O.P.A. 9, rue Biscornet (Métro: Bastille), www.opa-paris.com, Mo.–Do. 9.00–2.00, Clubbing Fr., Sa. 24.00–6.00 Uhr. Ab Mitternacht geht die Post ab: musikalisch und überhaupt.
  • Le Point Ephémère, 186–200, quai de Valmy (Métro: Jaurès), Mo.–Sa. 12.00–2.00, So. nur bis 21.00 Uhr. Bar mit Kunstgalerie am Ufer des Canal St-Martin, hat die Vergänglichkeit im Namen und erweist sich doch als erstaunlich beständig. Am besten spätabends kommen, wenn der DJ auflegt.
  • Café Charbon, 109, rue Oberkampf (Métro: Ménilmontant, Parmentier), So.–Di. 9.00–2.00, Mi.–Sa. 9.00–4.00 Uhr. Abhän gen in einer ehemaligen Kohlehandlung. Immer voll, immer gute Stimmung.
  • L’Île enchantée, 65, boulevard de la Villette (Métro: Colonel Fabien), Mo.–Fr. 8.00–2.00, Sa., So. 18.00–2.00 Uhr. In der Pariser Rave- und House-Szene gefeierte Musik-Labels geben den – guten – Ton an.
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