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Reise & FreizeitAlles Maskerade – Der Fastnachts-Schrecken aus dem Lötschental

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Tiefe Furchen ziehen sich von der Schläfe hinunter zur Nasenwurzel und über die Wangen. Die Augen liegen rot und schwer unter den wulstigen Lidern, die Zähne stehen weit auseinander, weit aufgerissen setzt das Maul zum Schrei an. Seit Monaten wartet sie auf ihren Einsatz, die Maske – auf Tschäggätta.

Früher hat Heinrich seiner Mutter über die vom Schnitzen schmerzende Schulter geschaut, hat genau dabei zugesehen, mit welcher Feinsinnigkeit sie als erste Frau die Späne aus dem hellen Walliser Arvenholz hob, das detailverliebte Ergebnis vor Augen. Mehr als 200 Holzmasken fertigte sie in ihrer Freizeit und brach mit ihrem Talent im Schweizer Lötschental eine Männerdomäne auf, eine schweizerische Tradition, deren Ursprung niemand so genau kennt.

Früher, so heißt es, habe man zum Frühlingsbeginn mit den Verkleidungen die Wintergeister vertrieben. Für andere sind die Tschäggätta die Diebe von der Schattenseite des Tals, die sich auf der Suche nach Lebensmitteln in Masken und Schafs- und Ziegenfelle hüllten, um nicht erkannt zu werden und Angst und Schrecken zu verbreiten. Aus Pragmatismus wurde Tradition: In den 60er Jahren zogen junge ledige Männer in der Fastnacht durch die Lötschentaler Dörfer um sich unerkannt für Demütigungen und Anfeindungen zu rächen – oft auch aus bloßem Gefallen an der Furcht ihrer Mitmenschen. Sie beschmierten sie mit Ruß, warfen sie in den Schnee und prügelten sie grün und blau. Für den ein oder anderen endete die Lötschentaler Fastnacht im Hospital. Auch als das Gemeindepräsidium den Umzug aufgrund der immer weiter ausufernden Brutalität verbot und die Tschäggätta-Masken in den Kellern zu gut gehüteten Staubfängern verkamen: Das Schnitzen ging weiter.

Mit dem Handwerk übernahm Heinrich von seinen Eltern nicht nur eine Tradition sondern auch die Leidenschaft, die er außerhalb der Fastnacht nur ungern mit der Öffentlichkeit teilt – jedenfalls behauptet er das unermüdlich, während er das Stecheisen in das halbrunde Arvenholz schlägt, das vor ihm auf der Werkbank liegt. Mit jedem Span verwandeln sich die vorgezeichneten Proportionen in Augenhöhlen, Wangenknochen, in die Konturen eines Kinns. Nur komplizierte Motive skizziert er vorher auf Papier. “Die schönsten Masken aber”, sagt er, “entstehen aus den Bildern im Kopf”.

Ein schmaler Gang führt hinter Heinrichs Werkstatt in einen kleinen Keller. Hier wohnen sie, die Tschäggätta-Masken seiner Mutter, grinsende Fratzen, die die feucht-kalten Kellerwände pflastern und den Raum noch kleiner machen, als er es ist. Die Kerze auf dem Holzfass in der Mitte wirft ein spärliches Licht auf die kantigen Augen, die Knollnasen und die Schlangen und Spinnen, die sich auf den Gesichtern festgesetzt haben. Eine Woche Arbeit steckt in jeder Maske, eine Woche Hingabe, Vorstellungskraft, manchmal eine Woche schlafloser Nächte. Das Ergebnis: unverkäuflich!

Für Heinrich sind die Kunst-Stücke Schrecken seiner Kindheit und Faszination zugleich. Es war weniger die Idee, eine Tradition fortzuführen, als der Gefallen an der Macht, die Menschen in Angst und Schrecken versetzen zu können: In den 80er Jahren ließ Heinrich die haarigen Gestalten mit den riesigen Kuhglocken am Gürtel gemeinsam mit seinem Bruder wieder auferstehen. Selbst die Gemeindepräsidenten, die das Wiederaufleben der alten Tradition mit allen Mitteln zu verhindern versuchten, zogen sich ob des fürchterlichen Anblicks und des Starrsinns der durch die Straßen jagenden Holzköpfe zurück. Das war Rebellion, da war Alkohol im Spiel. “Das war nicht Peace and Love wie heute – das war halt so.” Gewalt gegen Menschen aber, sagt Heinrich, habe er nie unterstützt und rückt sein Basecap zurecht.

Mit der Zeit liefen immer mehr Männer mit, erst 50, dann 100, auch Frauen mischten sich unter das verkleidungsfreudige Völkchen. Heute kommen Touristen um sich selbst ein Bild von den Tschäggätta zu machen und sich anschließend kleine Masken aus Lindenholz als Souvenir in die Wohnzimmer zu hängen – vor allem in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts eine wichtige Einnahmequelle für die Schnitzer. „Mit dem früheren Tschäggätta hat das aber nichts mehr zu tun.“ Alles Maskerade? Nein, soweit reicht Heinrichs Lötschentaler Kulturpessimismus nicht. Auch wenn er von den modernen Versionen, die der Herr Der Ringe-Saga entstammen könnten, nicht viel hält: Die Faszination an den Tschäggätta hat er nie verloren. Sie hat sich nur verändert.

Am späten Nachmittag verkriecht sich die Sonne langsam hinter den Bergen, in die das Lötschental sich bettet. Es ist Fastnacht – Final-Fieber. Nicht nur bei Heinrich finden sich im Schutz der Dämmerung die ersten Dorfbewohner ein. Zwischen düster riechenden Fellen empfängt auch Bruno Ritler in seiner Werkstatt die Männer, die heute Nacht seine Masken tragen werden, in denen die Leidenschaft und Arbeit des vergangenen Jahres stecken. Man kann kaum glauben, dass der heute 13-jährige Nathanael auch vor sechs Jahren schon das mehrere Kilogramm schwere Kostüm stundenlang durch die Lötschentaler Dörfer getragen hat – ein junger alter Hase im Showgeschäft wenn man so will.

Erst die alte Hose, eine umgedrehte Jacke in offensichtlicher Übergröße, dann hebt Bruno den künstlichen Buckel auf Nathanaels Schultern und verzurrt ihn so fest mit Gurten an seinem Oberkörper, dass einem beim bloßen Zuschauen die Luft wegbleibt. Nachdem er das Fell über Kopf und Buckel gezogen hat hilft Bruno ihm dabei, sich auf den roten, von den schweren Winterstiefeln zertretenen Teppich zu legen. Bruno und einer seiner Assistenten müssen all ihre Manneskraft aufwenden, um den Ledergürtel mit der großen Kuhglocke auf Taillenhöhe so festzuziehen, dass das Fell nicht mehr verrutschen kann.

Die Maske, die Nathanael schließlich aufsetzt, legt den Schalter um: Der bis eben noch beinahe schüchterne junge Mann im zotteligen Fastnachtskostüm rennt plötzlich wildgeworden auf den Nächststehenden zu und dreht erst im allerletzten Moment ab – Testphase. Während Bruno bereits dem nächsten jungen Mann den Buckel auf den Rücken bindet, stürmt Nathanael aus der Hütte zum Dorfplatz von Blatten hinunter. Hier versammeln sie sich im Schutze der hereingebrochenen Nacht, hier traben, brüllen und läuten sie sich und ihre Glocken in Stimmung bevor die Jagd durch die verschneiten Straßen der Lötschentaler Dörfer beginnt. Grinsende, spottende, schreiende Masken, verschrobene Gesichter auf von zotteligen Tierfellen bedeckten Rümpfen. Nathanael verschwindet in der Menge.

Und wie auf ein geheimes Kommando hin kanalisiert sich das Treiben plötzlich und die Menge trabt in Richtung Kirche, wo die neugierigen Zuschauer bei Glühwein bereits ungeduldig warten. Das ohrenbetäubende Klingen der Kuhglocken kündigt die Tschäggätta an. Wenn auch belustigt so weichen die Menschen doch mit unübersehbarem Respekt zurück und suchen Schutz hinter Autos und Holzstapeln, wenn die Gestalten in die Massen am Straßenrand stürmen und schubsen was das Zeug hält. Unerkannt rächen sie sich an denen, die ihnen im vergangenen Jahr auf den Leim gegangen sind, sie verpfiffen oder ausgelacht haben. Auch Nathanaels Schwester dürfte in diesen Minuten eine ordentliche Schnee-Abreibung bekommen – das hat er schon angekündigt. Hätte sie ihren Bruder doch bloß nicht verpetzt. Verletzte gibt es nicht in dieser Fastnacht.

Irgendwie ist es auch ein Schaulaufen, eine Modenschau der anderen Art, ein nervenaufreibendes Messen zwischen den Schnitzern: Welche Maske ist wohl in diesem Jahr die schaurig-schönste, die modernste, die provokativste? Morgen, am Tag nach dem Fastnachtsumzug, wird das sozusagen offiziell entschieden. Heinrich freut sich auf die Preisverleihung. “Es würde mich schon ärgern, wenn ich nicht gewinne. Es geht ja schon irgendwie darum, die anderen abzuhängen. Wir Schnitzer sind das Jahr über Einzelkämpfer hinter verschlossenen Türen.” Was da passiert ist streng geheim. “Am Tag nach der Fastnacht geht es dann um die Wurst.” Auch wenn er immer wieder beharrlich darauf besteht, dass es ihm nicht um die Tradition gehe: Heinrichs Liebe zum Detail, seine Akribie sprechen Bände.

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