Reportage

PortugalDas Erdbeben von Lissabon

Das heutige Lissabon ist gelassen & krisenerprobt ©picture alliance/Dumont Bildarchiv/Monica Gumm

Lissabon ist heute eine der gefragtesten europäischen Metropolen. Mit ihren gemächlichen Straßenzügen, der bergigen Stadtlandschaft und einer äußerst gelassenen Mentalität, sind die prägenden Folgen einer gigantischen Katastrophe im Jahr 1755 kaum noch spürbar.

 

Portugals wirtschaftliches und politisches Zentrum ist mit 600.000 EinwohnerInnen als eine eher beschauliche Hauptstadt zu bezeichnen. Hier herrscht ganzjährig ein angenehmes Klima, der Tejo steht kurz vor seiner Mündung in den atlantischen Ozean und beschenkt mit einer frischen Brise in der sommerlichen Hitze. Wie viele andere europäische Städte, hat sich auch Lissabon zu einer viel gefragten Reisedestination entwickelt. Zurecht, wie man sagen muss. Die ausgeglichene Mixtur aus Lebendigkeit und stoischem Gleichmut gilt als wesentlicher Teil ihrer DNA und schwappt bei Besuchen sogleich in die eigene über.

Trotz der bis zu 13% Gefälle und einem endlosen »Berg auf, Berg ab« werden Höhepunkte in Hülle und Fülle geboten. Museen von Weltrang, UNESCO Weltkulturerbe, ein Nahrungsangebot, dass so manch internationale Küche in den Schatten stellt und eine Mentalität, die im modernen Zeitalter der Hektik eine Wohltat ist. Einen Tiefpunkt jedoch wird man wohl nie vergessen. Er ist nicht auf den ersten Blick sichtbar und dennoch untrennbar mit der Hauptstadt verbunden.

 

1755

 

1755, hier beginnt und endet Lissabons Entwicklung. Genauer gesagt am 1. November diesen Jahres um 9.40 Uhr. Es ist Allerheiligen, doch der hohe Feiertag soll zukünftig als »Stunde 0« in die Geschichtsbücher eingehen. Als Tag, an dem sich eine der schwersten Katastrophen der jüngeren europäischen Geschichte ereignete. Ein Erdbeben, dessen Magnitude man heute zwischen 7.7 und 9.0 ansetzt, erschütterte, ja zerriss, die florierende Metropole. Das Beben war in ganz Europa bis nach Nordafrika spürbar. Drei bis sechs Minuten verwüsteten, rissen meterbreite Klüfte in die Straßen, ließen erhabene Bauwerke wie Kartenhäuser zusammenfallen.

Doch das sollte nicht alles sein. Durch das heftige Rütteln wurden stadtweit Großbrände ausgelöst, die noch tagelang anhalten sollten. Man spricht von einer Woche lodernder Feuerbrunst. Die meisten der über 50.000 Todesopfer vielen jedoch einer anderen Gefahr zum Opfer. Der Hitze der Flammen entfliehend, schienen das Meer, die Küste und die Uferbereiche des Tejosichere Orte zu sein. So floh man in der Hoffnung auf Schutz einer weitaus größeren Bedrohung in die Arme, denn auch die Wassermassen des Atlantiks reagierten auf die sich verschiebenden Erdplatten. Ein gigantischer Tsunami mit Flutwellen von bis zu 20m Höhe wurde in Bewegung gesetzt. Gnadenlos überrollte er alle küstennahen Gebiete. Nichts blieb an dem Ort, an dem es einst gestanden hatte. Tausende Menschen ertranken. 

Heute gibt es in Europa, doch vor allem in Lissabon und umherliegenden Regionen viele Orte und Erinnerungsdokumentationen, die direkt und indirekt an das damalige Ereignis erinnern.

 

Das heutige Lissabon - Orte der Erinnerung

 

Die Baixa Pombalina, die sogenannte Lissaboner Unterstadt wurde gänzlich dem Erdboden gleichgemacht und sodann im damaligen Zeitgeist neu errichtet. Ihre Architektur entstammt in Unterschied zu anderen Bezirken deshalb durchwegs aus dem 18. Jahrhundert. Der Vater, die treibende Kraft des gesamten Wiederaufbaus, war übrigens Sebastião de Mello. Zunächst Premierminister und später »Marques de Pombal«, das regierende Oberhaupt. Die Baixaist nebenbei ein beeindruckendes Beispiel für frühes erdbebensicheres Bauen. Aus der Erfahrung lernend und mit einer Portion Einfallsreichtum, testete man die Erschütterungstoleranz der hölzernen Käfigstrukturmittels trampelnder Militäraufmärsche.

Auch die Planung des ersten „öffentlichen“ Gartens fiel in diese Epoche und kann romantisiert als Zeichen des Aufblühensinterpretiert werden. Wobei das Attribut öffentlich relativ zu verstehen ist. Gelegen an der heutigen Prachtstraße Avenida de Liberdade war ein erholsamer Spaziergang bis zur Liberalen Revolution 1821 ausschließlich den höheren Ständen vorbehalten. Die beschauliche Grünfläche mit einer kleinen Wasserstelle wirkt heute eher unscheinbar.

Eine Dokumentation von Lissabons Genese vor und nach dem Erdbeben stellt das 2015 gegründete Museu de Lisboa aus . Mit Aufzeichnungen, Möbeln, Modellen, erklärende Videos und Zeitzeugenberichten wird bis zur Republikgründung im Jahr 1910 ein umfassender Eindruck der städtischen Entwicklung geschaffen. Der Eintritt ist erstaunlich günstig, beläuft sich aktuell auf 3€ (Stand: 20.06.2022).

 

Doch eine der wohl einzigartigsten Erinnerungsstätten an das Beben 1755 ist das Convento do Carmo, erbaut in den Jahren 1389 – 1423. Das ehemalige Kloster des Karmeliterordens wurde anders als ein Großteil der restlichen Hauptstadt nach der Katastrophe ruinenhaft belassen. Bei der dazugehörigen Kirche, der Igreja do Carmo,fehlt bis heute das Dach. Zwischen den aufragenden und zerklüfteten Mauern wird man mit Ruhe und Licht begrüßt. Die erhabenen Bögen sind fortwährend ein Bild meisterhaft umgesetzter gotischer Architektur. Mit einem Hauch Mystik manifestieren die Überreste Erhabenheit und Fragilität, ja, können als sinnbildliche Vereinigung von Himmel und Erde erfahren werden. Heute wird die ausgezeichnete Akustik der Hallen für sommerliche Konzerte genutzt.

Vor über 250 Jahren traf das Erdbeben von Lissabon die philosophischen Anhänger der Aufklärung existentiell. Große Denker wie Voltaire zweifelten an der Sinnhaftigkeit der Welt. Die Zerstörung passte nicht in das Bild von Moderne, von Freiheit, von Aufbruch und Licht. Heute sehen wir, dass ein Neubeginn anders anfangen kann als die Vernunft und Rationalität es zu verstehen vermag. Lissabon ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie Stadt und Menschen Krisen überwinden und in neuem Glanz erstrahlen können.

Autorin: Lea Katharina Nagel 

 

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