Reportage

IndienIndien: Die heilige Kuh

Ein vertrautes Bild des indischen Alltagslebens ©shutterstock.com/Marben

Die heilige Kuh – sie gilt als eines der bekanntesten Symbole Indiens. Ob herumstreunernd nach Nahrung suchend oder mitten auf dem Highway. Die sie umgebende Mystik hat ihre Wurzeln in den Ursprüngen des Hinduismus und prägt bis heute sichtbar das indische Alltagsleben. Zwischen Kulturkonflikten und Göttlichkeit, ist die zeitgemäße Betrachtung des Brauchs spannend, lehrreich und nicht fern vom indischen Straßenverkehr.

 

Bereits im letzten Jahrhundert ging der US-Amerikanische Anthropologe Marvin Harris „dem Kult um die Kuh“ aus wissenschaftlicher Perspektive auf die Spur. 1965 veröffentlichte er den wegweisenden Artikel The Myth of the Sacred Cow. Zahlreiche internationale WissenschaftlerInnen folgten ihm in den letzten Jahrzehnten. Die Wurzeln verortet man gemeinhin in den Veden, dem Grundstock des hinduistischen Glaubens. Die Veden, die erst beginnend im 5. Jahrhundert schriftlich festgehalten wurden, thematisieren die Kuh – meist bezieht man sich hier auf die weibliche Form - als Verkörperung des Universums und Mutter allen Lebens. Sie steht für Fruchtbarkeit und Fülle, wird mit Reinheit und Ordnung assoziiert. Ihr gottgleicher Status wird auch über eine Verbindung zu Vishnu abgeleitet, der neben Brahma und Shiva einer der drei Hauptgötter des hinduistischen Glaubens ist. Seine Inkarnation Krishnasoll unter Kuhhirten aufgewachsen sein, gilt als Schutzpatron dieser Gruppe und wird selbst als „der Kuhhirte mit Flöte“ bezeichnet.

Bis heute praktisch bedeutsam ist eine Übernahme aus dem verwandten janaistischen Glauben. Der Janaismus verfolgt das Ideal der Nichtverletzung von Lebewesen und gilt als Inspiration für das auch aus den Yoga-Lehren bekannte Prinzip der Ahimsa, der Gewaltlosigkeit. Die Übertragung der Ahimsa auf das Tier machte es letztlich zu einem unantastbaren Wesen, dessen Tötung streng untersagt ist. Inbegriffen ist darin ein Verbot des entsprechenden Fleischkonsums – das gilt auch für Rinder. Denn gänzlich ausgespart wird auch das männliche Tier nicht, Nandi ein prächtiger Stier, wird als das Reittier Shivas verehrt. Die Unantastbarkeit kann als eine Form der „Heiligsprechung“ interpretiert werden und fand vor circa 1000 Jahren statt.

Nüchtern und weltlich betrachtet erscheint die Ehrerbietung einleuchtend: Der Kuhdung ist in Indien ein wichtiges Heizmaterial und Dünger für die Äcker. Milchprodukte sind als Nahrungsquelle und in der Küche kaum wegzudenken. Häute und Horn verstorbener Tiere werden für die Lederproduktion verwendet. Als Last- und Nutztiere sind sie der Landwirtschaft – insbesondere für Kleinbauern – überlebenswichtig. Die Brücke zur Spiritualität schaffen die religiösen Zeremonien: Kaum eine Puja kann ohne Ghee, Milch, bzw. Joghurt stattfinden – sie gelten als rein und reinigend, sind beliebte Opfergaben.

 

Auf dem gesamten Subkontinent ist es unmöglich an der Kuh und dem Rind vorbeizukommen. Sichtbar ist sowohl die unausgesprochene Würdigung, als auch Verwahrlosung und Missachtung im Alltag. Die frei herumstreunernden Tiere werden teils mit hohem Respekt behandelt, doch wirft Abmagerung und die überwiegende Ernährung von Abfällen und Müll bei Fremden nicht selten Fragen auf. Zudem ist Indien einer der größten Rindfleischexporteure der Welt. „Wie geht das nun alles zusammen?“ Eine von vielen Antworten: Indien besteht nicht nur aus Hindus, die treu den alten Lehren folgen (möchten), noch sind alte Prinzipien in einem modernen Indien praktisch leicht leb- und umsetzbar.

Da es sich um religiöse Grundsätze mit staatlichen Auswirkungen handelt, bleiben auch zunehmende Konflikte mit anderen Konfessionen wie dem Islam, nicht aus. In Indien leben 180 Mio. Muslime, religiös betrachtet dürfen sie Rindfleisch essen. Doch innerhalb der Grenzen ist Jeder und Jede für Vergehen gegenüber der Kuh unter Strafe gestellt. Oftmals wird kritisiert, in einem Land wie Indien, in dem ein großer Teil der Bevölkerung Armut und Hunger leidet, sei das Tötungsverbot von Kühen und Rindern nicht mehr zeitgemäß. Darin liegt Wahrheit, ebenso liegt jedoch Wahrheit in dem Respekt gegenüber anderen Lebewesen. Die Forderung nach einem säkularen Staat und einer säkularen Gesetzgebung werden lauter und: treten langsam ein. Einige Bundesstaaten wie Westbengalen und Assam erlauben mittlerweile die Tötung von Tieren über 14 Jahren, obwohl Schlachtungen nicht mit Säkularisierung gleichgesetzt werden dürfen. Vielmehr geht es bei den Bestrebungen darum, alltägliches Leid für Tier und Mensch zu schmälern. Eingebracht werden sie von verschiedenen Seiten, von jungen Menschen, anderen Religionen, aber auch modernen Hindus.

 

Die heilige Kuh ist nicht mehr nur religiöses Symbol, sondern zu einer gesellschaftlichen Causa geworden. Die Vereinigung von Modernisierungsprozessen und verwurzelter Spiritualität ist keine leichte Aufgabe. Die Kuh ist mystisch, zauberhaft, weckt Bilder und Gefühle, ist Teil einer anderen Weltsicht, kann erfahren und erforscht werden. Man könnte sagen: Der indische Straßenverkehr ist ein treffendes Sinnbild: Es wird gehupt, gedrängelt, gebremst und gequetscht.


Autorin: Lea Katharina Nagel 

 

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