KulturHigh-Tech und Anarchie – das indische Kastensystem
Das Kastensystem bestimmt nach wie vor große Teile des Zusammenlebens in der indischen Gesellschaft. Immer stärker bäumt sich das Land zwischen Freiheit und Reglementierung auf.
Zu den Hintergründen
Der Begriff Kaste stammt vermutlich aus dem Portugiesischen und bezeichnet etwas „nicht zu Vermischendes“. Die in den Subkontinent eindringenden Europäer verwendeten den Ausdruck, um ihrem ideologischen Rassendenken einen Namen zu geben – das dahinterliegende Prinzip, Menschen in der indischen Gesellschaft in Gruppen und Schubladen einzuteilen, ist jedoch wesentlich älter und war unter dem Begriff varna (Farbe) geläufig. Varna bezieht sich auf die Hautfarbe, denn – so der weitverbreitete Glaube – je heller die Haut, desto höher ist der Wert eines Menschen. Grundsätzlich baut das Kastenwesten auf vier Gruppen auf: Den höchsten Rang nehmen die Priester (Brahmanen) ein, gefolgt von den Kriegern (Kshatriyas), der arbeitenden Bevölkerung (Vaishyas) und der Dienerschaft (Shudras). Außerhalb dieser Rangordnung gibt es noch über zweitausend Unterkasten – den untersten sozialen Rang nehmen die Unberührbaren (Dalits) ein. Man vermutet, dass es sich bei ihnen um Nachfahren ehemaliger Kastenangehöriger handelt, die aufgrund von Nichteinhaltung der Ordnung verstoßen wurden – beispielsweise Frauen, die nicht standesgemäß heirateten. Dalits gehen häufig „unreinen“ Berufe wie Wäscher, Müllsammler oder Latrinenreiniger nach. Die mehr als 240 Mio. dieser Kaste angehörigen Menschen sind – besonders auf dem Land – nach wie vor starker Diskriminierung ausgesetzt: Angriffe, Belästigungen oder Morde sind keine Seltenheit, Dalits dürfen bestimmte Tempel nicht betreten oder Gemeingut wie Brunnen nicht benutzen. Neben, beziehungsweise in, der Kaste der Unberührbaren tragen Frauen und Mädchen die Hauptlast der Unterdrückung. Sie sind zusätzlich sexueller Belästigung oder Gewalt ausgesetzt – Vergewaltigungen von Dalit-Frauen bleiben meist ohne Konsequenzen. Jährlich gibt es zehntausende solcher Fälle.
Ist Ausbruch möglich?
Ja und Nein. In modernen Großstädten wie Mumbai, Bangalore oder Hyderabad lockert sich das System langsam und wird zunehmend von sozialen Unterschieden abgelöst. Einkommen und Job entscheiden, welcher sozialen Gruppe, man sich zugehörig fühlt. Gerade junge Menschen, wollen sich aus dem engen Korsett befreien. Durch den starken Einfluss der Eltern wird jedoch trotzdem – beispielsweise bei der Partnerwahl – nach wie vor nach dem Kastensystem entschieden. Die endgültige Flucht, wird vielen erst durch Auswanderung oder beispielsweise ein Studium in Europa oder Nordamerika möglich. Es ist schwer zu glauben, dass die indische Regierung schon 1949 das Kastensystem abgeschafft hat – wo es doch in der Realität so stark existiert. Daran hat auch wenig geändert, dass in den letzten zwanzig Jahren zwei Staatsoberhäupter aus der Kaste der Unberührbaren stammten. Oder, dass Plätze an den Universitäten und in öffentlichen Ämtern nach einem bestimmten Schlüssel an sie vergeben werden. Nicht selten spitzen solche Demokratisierungsprozesse die gespannte Situation sogar zu und lösen Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen aus. Zuletzt zeigte sich 2016 welch enorme Sprengkraft dem Kastenwesen nach wie vor innewohnt: In den Bundesstaaten Haryana und Uttar Pradesh gingen tausende Angehörige der Jat-Kaste auf die Straßen. Die heftigen Proteste forderten Tote, viele Verletzte und konnten erst durch massiven Einsatz des Militärs beendet werden.
Zwischen Vergangenheit und Zukunft:
Indien war seit jeher ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen, Religionen und Einflüsse. Letztlich sind es auch die Kontraste, Unterschiede und Konflikte, die es zu dem schillernden Land machen, das es heute ist. Bizarre Strukturen, die nachdenklich stimmen und gleichzeitig neugierig machen. Ja, hier ist das Mittelalter nur einen Steinwurf von der Moderne entfernt, High-Tech und Anarchie geben sich die Hand. Die Zukunft bleibt ungewiss, man kann rasante Veränderungen beobachten und unverrückbare Strukturen erkennen– je nachdem, wohin man blickt.
Autorin: Lea Katharina Nagel