Unsere AutorenHelmuth Taubald

Quelle: © Helmuth Taubald

Helmuth Taubald ist für DuMont Reise unterwegs in Brasilien.

Wie lange leben Sie schon in Braslien?
Seit 1990 lebe ich in meiner brasilianischen Wahlheimat Rio de Janeiro. In den ersten Jahren habe ich viele Reisen durch Brasilien gemacht. Danach wurde ich zum DuMont-Autor und arbeite inzwischen an vier Brasilien-Handbüchern mit. Neben meiner Autorentätigkeit biete ich in Rio private City-Touren im eigenen Pkw an.

Was haben Sie vor Ihrem Umzug nach Brasilien gemacht?

Von 1969 bis 1974 habe ich in Berlin und Hamburg Germanistik und Sozialwissenschaften studiert. Danach arbeitete ich in Bremen als Lehrer und Dozent. 1989 unternahm ich meine erste Reise nach Brasilien, ohne zu ahnen, dass ich hier einmal Wurzeln schlagen würde.

Wie war Ihr erster Eindruck von Brasilien?

Der erste Eindruck von diesem Land, seinen Menschen und der Stadt Rio war dermaßen überwältigend, dass ich schon ein Jahr später übersiedelte. Neugierig reiste ich dann kreuz und quer durch Brasilien, ohne zu wissen, dass der DuMont-Verlag später an mich herantreten würde, um mich als Autor für einen Reiseführer zu gewinnen. Ich lebte zu der Zeit schon fünf Jahre im Land und hatte all das bereits privat bereist, was nun plötzlich zum Stoff eines Buches wurde.

Welche Reise-Handbücher haben Sie geschrieben?

Die erste Auflage von »Richtig Reisen Brasilien« erschien 1997 und war - ohne unkritisch zu sein - ein literarisches Liebesbekenntnis zu einem fantastischen Land. Alle Ausgaben zusammengenommen, ist das Buch mit knapp 100 000 verkauften Exemplaren schon fast ein Klassiker. Seit 2011 ist auch der in Salvador da Bahia lebende Brasilienexperte Nicolas Stockmann als Autor beteiligt. Seit einigen Jahren bin ich zudem Co-Autor des Stefan Loose Travel Handbuchs Brasilien sowie des Baedeker Brasilien. Und  2012 erschien in der Reihe DuMont direkt ein City-Guide nur zu Rio de Janeiro, den ich wieder zusammen mit Nicolas Stockmann verfasst habe.

Was ist Ihnen wichtig, Ihren Lesern über Brasilien nahezubringen?

Ein Einleitungskapitel meiner Bücher trägt den Titel »Land der Extreme und Widersprüche«, doch auch auf die Vielfältigkeit wird hingewiesen. Amazonas ist in Deutschland ein Begriff, Pantanal schon weniger. Rio ist in aller Munde, das barocke Ouro Preto kaum. Pelé kennt jeder, Oscar Niemeyer nur der Gebildete. Und insgesamt möchte ich vermitteln, dass Brasilien viel mehr ist und hat, als gemeinhin angenommen wird.

Wie gehen Sie mit Klischees um, die mit Brasilien verbunden sind?

Ich bestätige die Vorurteile, gebe ihnen aber ein sachliches Gewand. Klischees haben ja meistens einen realen Kern, nur ist alles viel komplexer. Samba, Sonne und Sause ja, aber auch Axé-Musik, Schneeflocken im Winter und eine Null-Promille-Grenze am Steuer. Korruption, Gewalt und Chaos ja, aber auch Lula und Dilma, pazifizierte Favelas und internationale Mega-Events. Brasilien ist allgemein im Umbruch, lange witzelte man, es sei das Land der Zukunft und würde es immer bleiben . . ..

Wie sehen Sie allgemein die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Brasiliens?

Bemerkenswert ist, dass das Land die globalen Wirtschaftskrisen bisher recht unbeschadet überstanden hat und die Zukunftsaussichten eher positiv einzuschätzen sind. Unter den Regierungen Lula und Dilma sind nun auch die sozial Schwachen endlich ins Blickfeld der Politik geraten. Es gibt umfangreiche Sozialprogramme wie Bolsa Familia, eine starke Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes und einen erleichterten Zugang zu Krediten für ärmere Familien und Kleinstunternehmen. Das Selbstwertgefühl der weniger privilegierten Brasilianer ist spürbar gestiegen, die Schwerstkriminalität geht zurück. Dennoch bleibt viel zu tun.

Wie sehen Sie die Entwicklung speziell in Rio de Janeiro?

Seit wenigen Jahren erlebt Rio ein beispielloses Comeback, auch begründet durch Mega-Events wie die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016. Die Investitionen in Infrastruktur, Transportwesen, Urbanisierung, Kultur und Sicherheit waren sehr  hoch. Schon jetzt ist Rio spürbar sicherer geworden. Reflex all dieser Tendenzen ist die deutliche Belebung des Tourismus. Rio zählt zu den beliebtesten Reisezielen der Welt.

Inwiefern hat sich Ihre persönliche Sicht auf Brasilien im Laufe der Jahre, die Sie in Brasilien leben, verändert?
Anfangs bot Brasilien viel von dem, was ich in Deutschland suchte oder vermisste. Die Euphorie spiegelte sich auch in den ersten Ausgaben der Reise-Handbücher wider. Die beiden Länder schienen sich ideal zu ergänzen. Später entdeckte ich natürlich auch ein paar Schattenseiten, die jedes Land besitzt. Dennoch lebe ich weiter gerne in Brasilien.

Inwiefern haben Sie sich selbst durch das Leben in Brasilien verändert?

Europäer und besonders Deutsche sind in Brasilien sehr beliebt. Man bekommt viel positive Verstärkung, spürt die Offenheit, Freundlichkeit und Herzlichkeit der Menschen. Ansonsten bin ich der Gleiche geblieben, viele deutsche Eigenschaften wie Pünktlichkeit habe ich auch in Rio nie abgelegt.
 
Sie bieten auch Führungen durch Rio an. Wer sind typische Kunden von Ihnen? Wie verändert sich das Brasilien-Bild der Touristen durch Ihre Führungen?
Die meisten Gäste finden mich über meine Bücher, manche auch über meine Seite www.rio-insider.com. Alle sind sehr aufgeschlossen und interessiert, vor allem an sozialen Fragen, an Favelas und dem brasilianischen Lebensalltag. Bei den Führungen bemerken viele erstaunt, wie sauber und modern Rio ist, wie neu die Autos und wie gepflegt die Menschen sind und dass sie sich die Kriminalität viel schlimmer vorgestellt hätten. Und durch die topografische Lage gewinnt Rio oft das Prädikat der schönsten Stadt der Welt.

Haben Sie den Eindruck, dass Touristen auch Anstöße für ihr eigenes Leben mit nach Hause nehmen?
Viele stellen fest, dass das Leben hier ungezwungener abläuft, dass sich fremde Menschen spontan unterhalten oder die Zeichensprache überall gegenwärtig ist, dass man Körperlichkeit zeigt und sogar Schwangere auf der Straße ihren nackten Bauch vorführen, dass kaum gehupt wird und wenig Aggressivität im Verkehr zu spüren ist. Die Eindrücke bleiben bestimmt haften, doch nur wer öfter kommt, wird auch ein paar Gewohnheiten daheim überdenken.

Gab es ein besonders prägendes oder außergewöhnliches Erlebnis, das Sie während einer Ihrer Führungen hatten?
Einmal rief mich an einem Sonntagmittag eine Dame vom Flughafen aus an und bat mich, sie abzuholen. Sie sei morgens angekommen und hätte so große Angst, dass sie das Gebäude noch immer nicht verlassen hat. Wir haben dann eine Tour gemacht, und abends tanzte sie auf der Feira Nordestina. Eine andere Dame hatte sich sehr viel aufgeschrieben, alles was sie sehen wollte. Und nach jeder Besichtigung wurde der Punkt auf der Liste abgehakt. Das hat mich ziemlich nachdenklich gestimmt. Und einmal musste ich passen: Ein besonders detailbewusster Gast fragte, ob der in Rio 1792 hingerichtete Unabhängigkeitskämpfer Tiradentes zuerst geköpft oder zuerst gevierteilt worden war. Beides war wohl geschehen, aber in welcher Reihenfolge bloß?

Sie bieten auch Führungen durch Favelas an. Mit welchen Gefühlen ist ein solcher Besuch verbunden?
Ich besuche die Mega-Favela Rocinha und die kleinere Favela Cantagalo, beide sind inzwischen von der Polizei besetzt und pazifiziert worden. Die Bewohner, es gab eine Umfrage, befürworten in ihrer Mehrzahl die Touristenbesuche. Die Gäste scheuen sich jedoch häufig, weil sie ungern die Armut wie in einem Zoo besichtigen wollen. Die Favelas von Rio sind jedoch kaum mit Elends-Ghettos oder Town-Ships zu vergleichen, oft wirken die unverputzten Häuser nach außen ärmlicher als im Inneren. Strom und Wasser sind da, und die städtische Müllabfuhr kommt auch. Hinterher sagten die meisten, dass der Favela-Besuch ein Highlight war, besonders der Blick auf die abenteuerlichen Elektroverkabelungen.

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